Entwurzelung führte Luis in Sucht und Obdachlosigkeit. Nicht zuletzt dank Pfarrer Sieber und dessen Pfuusbus fand er nach 30 Jahren daraus heraus.

Der Leuchtturm in den Stürmen meines Lebens

«Die Nachricht von Pfarrer Siebers Tod am 19. Mai 2018 erschütterte mich zutiefst. Ich verkroch mich, war am absoluten Tiefpunkt meines Lebens angelangt. Ich war drogensüchtig und hatte den Kontakt zu meinen vier Kindern, meinem Vater und meiner Grossmutter verloren. Pfarrers Tod war ein Genickschlag. Denn der Pfarrer – so nannten wir Obdachlosen Ernst Sieber schlicht – war für mich der Leuchtturm in den Stürmen meines Lebens und nun erloschen. Mir schien jede Hoffnung entschwunden. Gott sei Dank bewahrte ich in meinem Innersten einen Funken Glauben an Gott und die Menschen, der trotz Drogensucht nie ganz erlosch. Dank ihm und der Liebe meiner Kinder zu mir schöpfte ich wieder Hoffnung. Mir wurde klar, dass ich ein Leben erhalten hatte, das ich nicht wegwerfen durfte. Und dass ich nicht nur für mich lebte, sondern auch für andere. Das hatte mir der Pfarrer immer wieder gesagt. Aber gell, wenn du grad auf einem Drogentrip bist, prallt solches einfach an dir ab. Mit seinem Tod wurde mir bewusst, was er damit meinte. Er hatte mir seit unserer ersten Begegnung Ende der 1980er-Jahre auf dem Platzspitz stets Vertrauen geschenkt, in besseren, wie in schlechteren Zeiten. Wenn ich ihn im Pfuusbus antraf, spürte ich jeweils, was er meinte, wenn er sagte, was noch heute auf dem Pfuusbus steht: ‘Du bisch nöd elai!’ Aber so richtig erfassen konnte ich es erst jetzt.

Hier war ich ein Niemand

Des Pfarrers Tod weckte in mir auf wundersame Weise meine eigene Menschenliebe. Die war mir angesichts meines Lebens, das von wiederkehrender Entwurzelung geprägt ist, immer mehr abhandengekommen. Geboren wurde ich in Angola als Sohn eines Portugiesen und einer Einheimischen. In den Wirren des angolanischen Unabhängigkeitskriegs musste mein Vater 1974 Hals über Kopf fliehen und sein ganzes Hab-und-Gut zurücklassen. Ich wurde von meiner Mutter getrennt, was für mich traumatisch war. Als 5-Jähriger kam ich in Vaters ursprüngliche Heimat Portugal. Nicht in eine Stadt, sondern in ein mausarmes Nest im Hinterland, wo mich meine Grosseltern unter ihre Fittiche nahmen. 1984 holte mich mein Vater, der hier inzwischen Arbeit gefunden hatte, nach Zürich. Wieder wurde ich ungefragt von einem geliebten Menschen, meiner Grossmutter, getrennt. Die pulsierende Stadt Zürich war für mich als 14-Jähriger aus dem ländlichen Portugal ein Kulturschock. Dass es mir als Mischling, der kein Deutsch sprach, nicht einfach gemacht wurde, kann man sich wohl vorstellen. Ich war hier ein Niemand. In einer Integrationsklasse mit lauter Ausländern lernte ich Deutsch. Frau Meier und Herrn Helbling bin ich noch heute dankbar für ihre endlose Geduld. Im Kreis 4 konnte ich dann eine Lehre als Musikinstrumenteverkäufer machen, während der ich mit dem Kiffen und schliesslich anderen Drogen in Kontakt kam. Später führte ich während sieben Jahren ein Restaurant und arbeitete gut bezahlt auf dem Bau. Zu Beginn der 1990er-Jahre lernte ich meine erste Frau kennen und zog zu ihr ins Zürcher Oberland. Die Geburt unserer Tochter überforderte uns beide. Entfremdung und schliesslich die Scheidung entzogen mir den Boden unter den Füssen. Ich stürzte erstmals komplett ab. Es folgte ein stetes Auf-und-Ab. Aus drei weiteren Beziehungen stammen drei weitere Kinder, zu denen ich emotional zunächst kaum Kontakt aufbauen konnte, weil mich die Sucht völlig absorbierte.

Ich habe den Weg zu mir gefunden

Es war auch die Liebe meiner Kinder zu mir, die mir Kraft zur Wende gab. Sie hatten ihren Vater gesucht – und mich gefunden. Nach einem kalten Drogenentzug, einer grausamen Tortur, schaffte ich die Abstinenz. Heute arbeite ich in einem 80-Prozent-Pensum in einem Arbeitsintegrationsprojekt. Ich begann, intensiv an mir zu arbeiten und mich mit mithilfe einer Therapeutin mit meiner Vergangenheit zu beschäftigen. Für mich der Schlüssel zu meinem Leben. Ich habe begonnen, Nachforschungen nach meiner Mutter zu machen. Das Rote Kreuz hilft mir dabei. Noch weiss ich aber nicht sicher, wer und wo meine Mutter ist. Wenn ich genügend Hinweise habe, will ich nach Angola fliegen und sie suchen. Ob ich einen Weg zu ihr finde, weiss ich nicht. Einen Weg zu mir selbst habe ich gefunden. Weil meine Kinder, Pfarrer Sieber und seine Leute mich nie fallen liessen.»